Neue Musik: Alben von Finneas, Revolverheld, Santana, den Beatles und den Rolling Stones

Wenn sich ein 72-jähriger Popsuperstar wie Queen-Schlagzeuger Roger Taylor mit der Endlichkeit beschäftigt, mag das angehen. Aber ein 24-Jähriger? Finneas ist der Bruder von Billie Eilish, er hat acht Grammys und hat sein Debüt „Optimist“ während der Arbeit an Schwester Billies zweitem Album aufgenommen. Und wer jetzt denkt, „Ego – muss ja“, der liegt falsch. Auch Finneas versteht sich auf bewegende, vornehmlich balladeske Popmusik, die sich mit den Schatten des Lebens beschäftigt. Aus denen schöpfen auch Badflower, aber die kalifornische Band um den charismatischen Sänger Josh Katz pflegt dabei Rock ’n’ Roll. Schön melodiös, freilich nur so lange, bis sie ihre Songs zerkrachen und zerschreien. Eintreten! Reinhören!

Badflower rocken über gesellschaftliche Verwerfungen

Dass der Rock ’n’ Roll am Leben sei, konstatierte die vortreffliche italienische Band Maneskin bei ihren ESC-Gewinn in diesem Jahr. Dass er aber sogar noch richtig derb auskeilt, zeigen jetzt Badflower aus den USA auf „This Is How The World Ends“ mustergültig. Dabei geht das Album ganz leise los. Auf „Adolescent Love“ singt Josh Katz von Erinnerungen an die Zeit der ersten, unschuldigen Liebe und wie sie ihm von abgeklärten Erwachsenen kaputtgemacht wurde. Romantisch sei alles gewesen, die erwachsene Liebe danach aber nur noch gewalttätig. Eine süße Melodie, ein ernüchtertes Fazit. Anzeige

Mit Melodien haben es Badflower überhaupt, sie sind in diesem Fach ähnlich gut zupass wie die Imagine Dragons. Anders als die Kollegen aus Vegas stellt das nach Nashville umgesiedelte L.-A.-Quartett aber keine pseudocoolen Soundmätzchen in den Vordergrund. Die Songs folgen auch keinem Strophe-Refrain-Muster, manche beginnen harmonisch und werden dann kurz vor der „Kuschelrock“-Grenze von den Instrumenten lärmig zerschlagen und von Katz zerschrien.

Und anders als die Dragons sind Badflower allzeit dringlich, sie sind dran an den gesellschaftlichen Verwerfungen. Die Geschichten, die sie erzählen, handeln von Selbstsucht und Missbrauch, von Menschen, die zerbrechen („Fukboi“) und Menschen, die zerbrochen werden („Tethered“), von Oberflächlichkeit und Depression („Sasshole“) und von den sozialen Diskrepanzen – hier die zynischen, unglücklichen Privilegierten der Wohlstandsgesellschaften, die alles haben, dort die Verzweifelten, deren Überleben „auf Schlauchbooten in mörderischen Seen“ unsicher ist („My Funeral“). In „Machine Gun“ stellt Katz die Frage nach Gut und Böse in Konflikten („Was, wenn wir die Terroristen sind?“). Königssong all dieser zornigen Lieder ist „Everyone‘s an Asshole“, eine misanthropische Breitseite, auch gegen den Ex-Präsidenten Donald Trump, „der keinen Beweis vorzeigt und trotzdem einen Mob zum Aufstand überreden kann“. Große Scheibe. Und: Wetten, dass kein Song dieses Rock-‘n‘-Roll-Volltreffers im Radio zu hören sein wird? By the way – wann kommt endlich das Album von Maneskin?

Badflower – „This Is How The World Ends“ (Big Machine Records)Anzeige

Lucinda Williams, Bob Dylan und der Blues der bösen Zeiten

„Wir leben in einer politischen World“, stellt Lucinda Williams fest – in einer Welt, in der die „Weisheit ins Gefängnis geworfen wurde“, „wo der Frieden nicht willkommen ist“ und „wo Courage ein alter Hut ist“. In „Political World“ ihrer Dylan-Hommage „Bob‘s Back Pages“, schaffen die nadelspitzen Gitarrenklänge von Stuart Mathis und Joshua Grange über achteinhalb Minuten eine nervöse Atmosphäre. Der Song ist nicht nur doppelt so lang, sondern wirkt auch ein Stück weit bedrohlicher als das Original von Dylans 89er-Album „Oh, Mercy!“ Es sind unheilvolle Zeiten, in denen der Teufel im Gewand eines „Man of Peace“ auftreten kann: „Er könnte ‚der Führer‘ sein oder der örtliche Priester“. „Everything Is Broken“ dann – die Gitarren twangen gefährlich, als wäre Henry Mancinis „Peter Gunn“ in den Song gefahren. Von zerbrochenem Geschirr ist es nicht weit zu gebrochenen Verträgen. Anzeige

Der Blues regiert hier von den ersten Takten von „It Takes a Lot to Laugh, It Takes a Train to Cry“. Und Williams Stimme singt so tief empfunden, als seien Bob Dylans Lieder aus ihrer eigenen Feder. Von „Highway 61 Revisited“ (1965) bis „Time out of Mind“ (1997) reichen ihre Quellen. Wie jüngst ihre Kollegin, Pretenders-Frontfrau Chrissie Hynde, auf deren Dylan-Album „Standing in The Doorway“ ist die 68-Jährige dabei nicht an Songberühmtheiten wie „Forever Young“ oder „Blowin‘ in The Wind“ interessiert. Der Hit ihrer Auswahl ist wohl „Make You Feel My Love“, ein Lovesong, den schon Billy Joel, Adele und Garth Brooks, ja sogar Helene Fischer aufgenommen haben. „Ich gehe bis zum Ende der Welt für dich“, singt Williams. Ein Glück hast du, Bob Dylan!

Lucinda Williams – „Bob‘s Back Pages: A Night of Bob Dylan Songs“ (Highway 20 Records)

Santana ist wieder auf der Pop-Road unterwegs

Dass Carlos Santana das alte Latinrockfeuer noch abfackeln kann, bewies er 2016 mit „Santana IV“. Mit den einstigen Weggefährten – Drummer Michael Shrieve, Perkussionist Michael Carabello, Gitarrist Neal Schon und Keyboarder und Leadsänger Gregg Rolie – schuf der Woodstock-Meister noch einmal ein großartiges, perkussives Meisterwerk, in dem er sich mit seiner singenden Paul Reed Smith mal gar nicht aufdringlich nach vorn spielte. Das 2019 folgende „Africa Speaks“ war annähernd so entfesselt – die alte Magie des Jammens entfaltete sich auch hier über die volle Albumlänge. Anzeige

Jetzt wird der 74-jährige Gitarrist wieder, sagen wir, einnahmenorientierter. „Blessings And Miracles“ steht eher in der Tradition von „Supernatural“, Santanas erstem Tanzpop- und All-Star-Album von 1999, über das sich damals ein wahrer Grammy-Regen ergoss. Hip-Hop wird integriert, und Matchbox-20-Sänger Rob Thomas ist dabei, der vor 22 Jahren schon „Smooth“ sang und mit „Move“ durchaus wieder einen Song mit Hitpotenzial zu bieten hat.

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  • Ein wenig Latin-Flavour findet sich in „Medieval“, ein wenig Neunzigerjahre-Pop in „The 90ies“ und das wohl munterste Stück „Around My Neck“ (es geht um Sex) klingt wie Prince zu „Kiss“-Zeiten – nur eben in Zeitlupe. Der positive Albumtitel verdankt sich wohl eher dem entspannten Entstehungsprozessgefühl des 24-jährigen Sängers, Songwriters, achtfachen Grammy-Gewinners, der dieses hochmelodische Werk ohne jeden Druck schuf, als er parallel an „Happier Than You“ arbeitete, Schwester Billies zweitem Album. Das Ergebnis: Traurig kann so gut tun. Und ein Optimist ist ja auch nur einer, der die Unbilden und Untiefen des Lebens sieht, das Hoffen dabei – man höre Finneas‘ „Only A Lifetime“ – aber nicht vergisst.

    Finneas – „Optimist“ (Interscope)

    „Let It Be“ – Jubiläum des Beatles-Epitaphs lässt Wünsche offen

    Schade, möchte man meinen, während man den neuesten, kostbaren Beatles-Ziegel in den Händen wiegt. Schade, dass man dieser dicken, schönen Box die Filme über die „Let It Be“ Sessions (aus rechtlichen Gründen) nicht beigefügt hat – den Traurige-Beatles-Endzeit-Streifen „Let It Be“ von Michael Lindsay-Hogg von 1969. Schade auch, dass man keine eigene CD dem „Geklimpere“ widmete, der Inspirationssuche der Fab Four, die beim Work-in-Progress zahllose bekannte Weisen spielten – sogar das Zitherthema aus dem Nachkriegsthriller „Der dritte Mann“ von Anton Karas. Wahre Beatlemaniacs haben diesen Stoff seit Jahrzehnten auf klangtechnisch entsetzlichen Bootlegs und hätten viel mehr von diesen Highlights und Obskuritäten gerne mal in etwas besserer Qualität besessen.

    Die Jubiläumsausgabe jenes Beatles-Albums, das im Mai 1970 erschien, als die Band aller Bands gerade ihre Demission verkündet hatte, das aber noch vor „Abbey Road“ (1969) eingespielt wurde, hätte gern auch auch das komplette „Dachkonzert“ enthalten dürfen, mit dem sich die Beatles am 30. Januar 1969 oben vom Gebäude ihrer Firma Apple als Liveband zurückmeldeten. So ist diese Festausgabe von „Let It Be“ auch ein Denkmal einiger verpassten Gelegenheiten. Enthalten sind auf den fünf CDs außer Phil Spectors remastertem offiziellen Album und Glyn Johns unter dem Titel „Get Back“ fertiggestellter, verworfener Version aus dem Frühjahr 1969 noch Alternativversionen der Songs von „Let It Be“, frühe Varianten einiger Stücke, die dann auf „Abbey Road“ landeten („Octopus‘s Garden“, „Polythene Pam“) oder auf frühen Soloalben („McCartneys „Teddy Boy“, Lennons „Gimme Some Truth“ oder Harrisons „All Things Must Pass“).

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  • „Save The Last Dance for Me“ von den Drifters spielen sie auch an auf diesem Album, das durchaus eine „Rückkehr“ hätte werden sollen – die von der ausgetüftelten Popmusik seit „Revolver“ zum raueren, handgemachten Rock ‘n‘ Roll, mit dem die Beatles begonnen hatten. Nachgerade wurde es ihr letzter Tanz. Das letzte Wort zu „Let It Be“ ist mit dieser Box freilich noch immer nicht gesprochen.

    The Beatles – „Let It Be – 50th Anniversary Super Deluxe Special Edition“ (Apple/Universal)

    Rolling Stones: Perlen und Kiesel unter den Outtakes von „Tattoo You“

    Die Stones-Gemeinde kann nicht klagen – in den letzten Jahren gab es allerhand veredelte Originalalben und Konzertmitschnitte für ihren Schrein. Nur auf das ominöse Nachfolgewerk zu „Blue & Lonesome“ warten wir unverdrossen weiter. Einstweilen kommt nun ein Remaster von „Tattoo You“ auf den Markt – das war 1981 noch mal ein rundum großes Rolling-Stones-Album. Mit „Start Me Up“ enthielt es den letzten der klassischen Stones-Rocker, mit „Waiting on A Friend“ eine der schönsten Balladen der Band und das knappe „Hang Fire“ klang wie eine Hinwendung der Band zur Postpunk-Ära.

    Zum 40-jährigen Jubiläum erscheint es nun also in poliertem Soundgewand – bereichert um eine frühe Reggae-Version von „Start Me Up“ und acht Outtakes, die allerdings auch schon mal zeigen, dass man sich bei der Endauswahl fürs Album für die richtigen Songs entschieden hatte. Stücke wie das bluesige „Trouble‘s A Comin“, die Uptemponummer „Fiji Jim“ oder der als Single ausgekoppelte Midtemporocker „Living in the Heart of Love“ sind eher Stoff für Stones-Fans, die alles haben müssen. Die Stones-Bearbeitung von Dobie Grays Rock-‘n‘-Roll-Gospel „Drift Away“ dagegen zündet sofort, Gleiches gilt für den Countryswing „It‘s A Lie“ oder die Jimmy-Reed-Adaption „Shame Shame Shame“, die nicht nur wegen Jaggers quietschender Mundharmonika den Charme der frühen Rhythm-‘n‘-Blues-Cover der Rolling Stones aus den Sechzigerjahren aufweist.

    Das dicke De-luxe-Paket der Geburtstagsausgabe von „Tattoo You“ enthält überdies jede Menge Liveaufnahmen der Wembley-Konzerte der anschließenden Tour, zu der 1982 das Konzertalbum „Still Life“ erschien (auf dem unter anderem das hier aufgelistete Big-Bopper-Cover „Chantilly Lace“ fehlte). Es war die Tour der Buhrufe. In Deutschland wurde Peter Maffay von ignoranten Fans von der Bühne vertrieben, in den USA der damals noch in den Startschuhen steckende Prince.

    The Rolling Stones – „Tattoo You – 4-CD-Boxset Limited Edition“