AOL Deutschland: Abschied vom Internet-Pionier | STERN.de

Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als Computermagazine wie "Online Today" und "Tomorrow" am Kiosk lagen? Das war vor über zehn Jahren und zu einer Zeit, als Deutschland noch nicht komplett digitalisiert war. Google war noch nicht das mächtigste Unternehmen und die wertvollste Marke der Welt. Wer damals über das Internet sprach, sprach über AOL.

Gegründet wurde das Unternehmen 1983 als Quantum Link, die Umbenennung in America Online fand fünf Jahr später statt. Erst 1995 wurde AOL Europe gegründet. Wer nicht mit T-Online seine ersten Gehversuche im Internet unternehmen wollte, wählte sich mit der AOL-Software ins Web ein. Und das ging bestechend einfach: Die Zugangssoftware wurde per CD verschenkt. Das Unternehmen verteilte so viele Discs, dass es sogar Anleitungen gab, was man mit den Speichermedien alles anstellen könnte. AOL war überall. Um den Deutschen zu zeigen, wie einfach die Nutzung ist, engagierte das Unternehmen Boris Becker als Werbeträger. Seine Frage "Bin ich schon drin" war so simpel wie bestechend. Zeitweise nutzten fast drei Millionen Deutsche den Service, weltweit gab es sogar über 30 Millionen Kunden. Man konnte nicht nur günstig surfen, das Unternehmen brachte auch Nachrichten und Unterhaltung auf den Schirm.

Goldgräberstimmung im Netz

Es war die Zeit der Goldgräberstimmung im Netz. Man musste nur eine gute Internetadresse haben und schon gaben Investoren und Aktionäre Unsummen aus, um zumindest einen Teil des Unternehmens zu besitzen. AOL war damals so mächtig, dass es mit Time Warner, dem damals größten Medienunternehmen der Welt, fusionierte. AOL spielte sogar die Hauptrolle in einem Tom-Hanks-Film: In "E-Mail für Dich" nutzte Hanks den Onlinedienst, um sein Herzblatt zu finden. Das Unternehmen engagierte sich auch im Sport und war mehrere Jahre Namenssponsor für das Stadion des Fußballbundesligisten HSV.

Doch die goldenen Zeiten waren für AOL schnell vorbei, die haushohen Lettern an der HSV-Spielstätte längst abgebaut. Während das Unternehmen in den USA weiterhin viele Kunden hatte, sank der Stern von AOL in Europa unaufhörlich. Kunden brauchten keine spezielle Software mehr zu installieren, um ins Netz zu kommen. Man wollte sich nicht mehr per Modem einwählen, sondern mit schneller DSL-Verbindung surfen. Der Internet-Bürger wurde bei der Wahl seines Webzugangs immer mündiger, AOL verlor Kunden um Kunden. 2007 verkaufte das Unternehmen das Internet-Zugangsgeschäft an den Konkurrenten Hansenet.

Im modernen Internet spielte AOL längst keine Rolle mehr, Google ist im Web das Maß aller Dinge. Ende 2005 ließ sich der weltgrößte Suchmaschinenbetreiber den Einstieg bei AOL eine Milliarde Dollar kosten. Im Sommer 2009 kaufte Time Warner diese Anteile deutlich günstiger zurück, nur um sich im Dezember endgültig von AOL zu trennen. Knapp drei Wochen später nun das offizielle Aus. Dabei war AOL schon längst aus dem Bewusstsein verschwunden. Nichts erinnert mehr an das Unternehmen, das für Millionen Menschen einst das Web definierte.

Nach den Erfolgsjahren fuhr das einstige Schlachtschiff einen digitalen Schlingerkurs. Der Verkauf der Kunden und ein fast jährlicher Komplettwechsel der Führungsriege konnten den Niedergang nicht stoppen. AOL stand nicht mehr fürs Internet, es stand für Nichts. Kein Deutscher fragt sich mehr "bin ich schon drin?". Der Internetzugang gehört zur Standardausstattung. Der Tod kam schleichend, war aber unausweichlich. Nun werden die Pforten in Deutschland geschlossen, AOL wird nicht mehr gebraucht. Mach's gut, AOL, und vielen Dank fürs Netz.